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Das Mädchen und der Flamingo

Wer schon einmal in Südfrankreich in der Camargue gewesen ist weiß, dass dort unzählige Flamingos leben. Die Camargue liegt im Süden Frankreichs und ist ein riesiges Naturschutzgebiet, in dem auch zahlreiche weiße Wildpferde und schwarze Wildstiere leben. Anouk hatte das Glück, jeden Tag dort hingehen und die Tiere beobachten zu können, denn sie wohnte nicht weit davon in einem kleinen Ort in der Nähe von Saintes Maries de la Mer. 

Als die Hitze die Salzflächen flirren und den Sumpf schrumpfen ließ, wanderte Anouk mal wieder durch die wilde Landschaft. Am liebsten von allen Tieren hier mochte sie diese anmutigen, großen Vögel, mit Federn in rosa, weiß und pink. Unzählige davon staksten durchs salzige Wasser und tauchten mit ihren mächtigen Schnäbeln hinein, um nach Salinenkrebsen zu fischen. Oder sie standen stundenlang auf einem Bein und hielten ein Nickerchen.

Die Tiere hatten sich einigermaßen an Spaziergänger gewöhnt, doch allzu nah kamen sie nicht heran. Darum war Anouk überrascht, dass ein Flamingo, der im flachen Wasser stand, nicht fortlief als sie sich ihm näherte. Er unterschied sich auch von den anderen Tieren in der Farbzeichnung. Sein Kopf und Hals leuchteten orange, fast wie ihr eigenes hellrotes Haar, und sein Körper war mit weißen schwarzen und orangefarbenen Federn bedeckt. So ein Exemplar hatte sie noch nie gesehen. Ganz langsam ging sie auf ihn zu, er blieb immer noch stehen. Dann zuckte er mit seinem langen Bein und Anouk sah, dass er sich in irgend etwas verfangen hatte. Vorsichtig und so lautlos wie möglich ging sie weiter. Vielleicht lässt er sich ja helfen, dachte sie. Doch er zappelte noch wilder und versuchte sein Bein zu befreien, aber er hatte keinen Erfolg. 

Anouk hatte ihn fast erreicht und war erleichtert, dass er nicht nach ihr hackte. Vielleicht merkt er, dass ich ihm nur helfen will, hoffte sie. Dann sah sie durchs glasklare Wasser, dass sich ein Seil mit einem langen Gasbüschel verflochten und um die Klaue  des Flamingos gewickelt hatte. Sie bückte sich fast in Zeitlupe, tastete nach dem Seil und versuchte es zu entknoten, was gar nicht so einfach war, denn es war fest zusammengezogen und die ruckartigen Bewegungen des Vogels waren auch nicht gerade hilfreich. Fast hätte Anouk aufgegeben und Hilfe geholt, da rutschte das Seil plötzlich vom Gras herunter. Jetzt brauchte sie es nur noch über die Zehen zu ziehen. 

Als der Flamingo bemerkte, dass er frei war, watete er ein paar Schritte durchs Wasser und blieb wieder stehen. Anouks weißes Kleid war durchnässt, aber das war ihr egal. Sie winkte dem großen Tier zu, denn es war spät geworden und sie musste nach Hause. Bei Sonnenuntergang lief Anouk lief gerne durch die Camargue. Die Salinen, große Salzflächen, hatten eine rötliche Farbe und das wechselnde Licht gab der Gegend einen mystischen Schein. Sie war noch ganz in ihren Gedanken bei dem Flemingo, darum hörte sie auch jetzt erst das tapp…tapp…tapp hinter sich. Schnell drehte sie sich um – und sah direkt in dunkle Knopfaugen. Der Flamingo war ihr gefolgt; wenn er schon die ganze Zeit hinter ihr hergelaufen war, hatte sie es nicht bemerkt.

„Geh wieder zurück“, rief sie ihm zu. Aber er ließ sich nicht abschütteln. „Gleich kommt eine Straße, du kannst nicht mitkommen“, befahl Anouk ihm. Aber der Vogel folgte ihr unbeirrt. Doch am Rand der Straße stoppte er plötzlich, drehte sich um und stakste wieder zurück.

Ob er morgen wohl noch da wäre, dachte sie, bevor sie einschlief. Und als sie die Augen wieder öffnete war es auch schon morgens. Sie konnte es kaum erwarten wieder zu den Flamingos zu gehen. Anouk brauchte gar nicht lange zu warten, da sah sie den bunten Flamingo schon auf sich zu laufen. Von nun an stelzte er hinter ihr her, wann immer sie in dieser Gegend auftauchte. Sie nannte ihn Jaques und in den restlichen Ferienwochen hatte sie in ihm einen treuen Freund. Doch irgendwann, von einem Tag auf den anderen, kam er nicht mehr und Anouk suchte ihn vergebens. Jemand erzählte ihr, dass er Jaques mit einem schneeweißen Flamingo gesichtet habe und er jetzt wohl eine Partnerin hätte. Anouk weinte und war eine Zeit lang sehr traurig. Doch als ihre Eltern ihr zum Geburtstag ein weißes Wildpferd schenkten, verflog ihre Trauer sehr schnell. 

Und ratet mal, welchen Namen sie ihrem neuen Schützling wohl gegeben hat.

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