Dhakyra, Nuka und der Löwe
Dhakyra war ein kleines afrikanisches Mädchen, das mit ihrem Stamm, den Himbas, in der Namib-Wüste lebte. Die Namib Wüste gilt als die älteste Wüste der Welt, in der Löwen, Elefanten und viele andere Tiere wohnten. Ziegen, Fettschwanzschafe und Rinder wurden von den Himbas schon seit Jahrhunderten gezüchtet, und zu Dhakyras Aufgaben gehörte es, die Ziegen und Schafe zu hüten, damit sie nicht in die Wüste davonliefen. Für die Bewachung der Rinderherde war sie noch nicht alt genug. Sie machte es gut, was eigentlich zu erwarten war, denn ihr Name bedeutete „die Schlaue, Geschickte.“ Sie mochte den strengen Geruch der Tiere, legte sich manchmal unter eine Ziege und melkte sich frische Milch in den Mund, obwohl sie es nicht durfte, denn die Ziegenmilch war für den ganzen Stamm bestimmt und kostbar.
Am liebsten aber ließ Dhakyra sich ihre Haare von ihrer Mama stylen. Geflochtene Zöpfe mit Perlenschnüren oder bunten Bändern fand sie richtig cool. Wenn die Stammesfrauen ihren gesamten Körper und sogar die Haare mit Imbola, einem roten Ton, einrieben und spontan anfingen zu tanzen und zu singen, war sie so glücklich, dass sie sich kein schöneres Leben mehr vorstellen konnte.
Dhakyra wurde auf einmal traurig, als ihr einfiel, dass ihre Mama ihr die Haare kurz geschnitten hatte, als ihr kleiner Bruder Nuka geboren wurde, zu einer Zeit, in der eine große Dürre herrschte. „Ich habe jetzt weniger Zeit“, hatte sie ihr gesagt. Denn sie musste ihrem Mann dabei helfen, Holzgefäße, Löffel und Holzkopfkissen aus dem Kampferbaum herzustellen, die sie dann verkauften, um überleben zu können.
Dhakyra hatte sich zunächst sehr auf ihr Geschwisterchen gefreut, doch jetzt nach vier Vollmonden, hatte sich etwas in ihr geändert. Nuka wurde ständig geknuddelt, geküsst und mit Liebe überschüttet. Für sie selbst blieb kaum noch etwas übrig. Immer öfters musste sie auf ihn aufpassen und durfte nicht zu ihren geliebten Tieren. Und nur einmal hatte Dhakyras Mutter ihr in der ganzen Zeit kleine Stehzöpfchen gemacht, als die Haare wieder ein Stück gewachsen waren. Sie verstand ja, dass die Dürre Opfer von allen verlangte – aber ohne Nuka war es viel schöner gewesen.
Als sie das nächste Mal alleine mit ihrem kleinen Bruder war, fasste sie einen Entschluss. Sie wollte Nuka fortbringen, dann wäre alles wie vorher und sie konnte wieder glücklich sein. Sie nahm das Baby und lief hinaus in die Wüste, weiter und weiter, so lange sie laufen konnte. Dann legte sie den Kleinen in eine Sandmulde, sagte ihm, dass sie ihn liebhabe aber nicht mit ihm leben könne, und stapfte wieder zurück ins Dorf.
Als Dhakyra´s Eltern nach Hause kamen, fanden sie die Rundhütte leer. Niemand hatte die beiden Kinder gesehen. Aufgeregt rufend liefen sie zwischen den Hütten umher, bis sie zu den Schafen und Ziegen kamen. Dort fanden sie ihre Tochter schlafend zwischen den Tieren.
„Wo ist Nuka, wo ist dein kleiner Bruder?“ riefen sie. Dhakyra wachte auf und rieb sich die Augen. „Nuka?“ sagte sie verschlafen. „Der ist auf einem Löwen davongeritten.“
„Ein Löwe? Ein Löwe war hier und hat Nuka geholt?“ schrie die Mutter.
„Nein“, sagte Dhakyra, „er ist auf seinen Rücken geklettert und wollte auf ihm reiten. Dann waren sie plötzlich weg.“
Vor lauter Angst merkten die Eltern nicht, wie unwirklich Dhakyras Schilderung klang. Der Vater sprang sofort hoch und trommelte die Dorfbewohner zusammen. Sie bewaffneten sich und machten sich auf die Suche nach dem Kind und dem Löwen. Die Kinder aus dem Dorf mussten dort bleiben, ein Mann wurde abgestellt, um sie zu beschützen, falls der Löwe zurückkäme.
Es dauerte nicht lange, da hörte man ein Johlen und Schreien und bald darauf näherte die Gruppe sich tanzend und singend dem Dorf. Dhakyras Vater hielt Nuka hoch über seinen Kopf und strahlte, dass die Zähne nur so blitzten. Sie hatten den Jungen unversehrt dort gefunden, wo Dhakyra ihn zurück gelassen hatte. „Der Löwe hat ihn verschont“, jubelten sie begeistert, „heute Abend feiern wir das Wunder!“
Dhakyra hatte, als sie die Panik der Menschen bemerkte, doch ein schlechtes Gewissen und Angst bekommen, dass ein Löwe ihren kleinen Bruder hätte fressen können, und freute sich umso mehr, dass Nuka wieder zurück war. Ihre Mama ließ Nuka nun nicht mehr aus den Augen und Dhakyra durfte nun wieder regelmäßig zu ihrer Herde gehen.